„Schlecht“ produziert! – Nur eine Geschmacksfrage?

Vielleicht hast du auch schon einmal darüber gestritten: Gibt es wirklich „Schlechtes“ in jeglicher Kunst? Oder ist alles eine Frage des Geschmacks?

Um einem sicherlich lohnenden philosophischen Diskurs vorweg zu greifen, nehme ich für diesen Blog-Artikel einmal folgende Unterscheidung an:
Kunst ist auf der einen Seite Ästhetik. Sie löst bei der betrachtenden Person etwas aus, sie findet sie schön oder eben nicht. Soweit die Geschmacksfrage.
Kunst ist aber auch ein Handwerk. Zugegeben: Das gilt vielleicht nicht für alle Kunstformen. Aber für die Audio-Produktion gilt es auf jeden Fall. Und in diesem Sinne kann ein Produkt unabhängig vom Geschmack der Betrachtenden durchaus auch als „gut“ oder „schlecht“ gemacht eingeordnet werden.

Natürlich ist der Grad zwischen diesen beiden Seiten sehr schmal. Doch sowohl für dich als Kolleg*in als auch für dich als Musiker*in ist es manchmal wichtig, beurteilen zu können, wann eine Audio-Produktion handwerklich gelungen ist und wann nicht. Wir Audio Engineers bestimmen darüber einen Teil unserer eigenen Professionalität. Und du als Musiker*in musst zwischen verschiedenen Tonstudios auswählen, welchem du deine Musik anvertrauen möchtest.

Ich schlage folgende Kriterien vor, anhand denen wir beurteilen können, ob eine Audio-Produktion gelungen ist (mit „Instrumente“ meine ich im Folgenden auch Gesang):

1. Aufnahme und Bearbeitung:

  • Spielt die Band in time? Bzw.: Wirken eventuelle Timing-Ungenauigkeiten gewollt/passen sie zum Genre?
  • Ist die Intonation korrekt? Bzw.: Wirken eventuelle ungenaue Intonationen gewollt/passen sie zum Genre?
  • Sind unerwünschte Nebengeräusche oder Knackser (z. B. von Schnitten) hörbar?

Natürlich spielen bei diesen Punkten die performenden Musiker*innen eine große Rolle. Auf weitere Aspekte habe ich als Audio Engineer überhaupt keinen Einfluss. Doch für die aufgezählten Punkte gilt, dass ich sie sehr wohl bis zu einem gewissen Grad beeinflussen kann (durch Kommunikation während der Session, durch Auswahl der Takes und sauberes Nachbearbeiten im Nachgang).

2. Mix:

  • Sind möglichst alle Instrumente/Instrumentengruppen differenziert hörbar oder vermischt sich alles zu einem „Klangbrei“?
  • Ist das Frequenzbild jedes einzelnen Instruments ausgewogen (dem Instrument angemessene Höhen-, Mitten- und Tiefen-Anteile, die die Klangeigenschaften des Instruments bestmöglich zur Geltung bringen)?
  • Sind die Lautstärkeverhältnisse zwischen den Instrumenten ausgewogen?
  • Ist das Stereobild ausgewogen (oder hängt es zur einen Seite hin oder hat ein hörbares Loch)?
  • Bietet der Mix Abwechslung (durch Veränderung bestimmter Elemente wie Reverb, Delay, Klangfarben, Lautstärken, Effekte etc.)?
  • Ist der Klang insgesamt dem Genre angemessen (z. B. ein natürliches Klangbild bei Akustik-Musik etc.)?

3. Mastering:

  • Sind im gesamten Klangbild – soweit von den Instrumenten her möglich – von Bass bis Höhen alle Frequenzen angemessen vertreten (dies ist natürlich auch schon eine Frage im Mix)?
  • Sticht ein Frequenzbereich unangenehm hervor (ebenfalls auch schon eine Mix-Frage)?
  • Ist der Song laut genug, um auf heutigen Streaming-Plattformen mithalten zu können (aber je nach Genre auch nicht zu laut im Vergleich zu ähnlicher Musik)?
  • Hört man deutliche „Pump-Bewegungen“, die von zu starker Kompression/zu starkem Limiting herrühren können (je nach Genre können diese allerdings auch gewollt sein)?
  • Sind Übersteuerungen hörbar (diese können allerdings auch schon in vorigen Stadien der Produktion entstehen und sind dann hier nur noch schlecht eliminierbar)?
  • Sind Anfang und Ende des Songs frei von Knacksern oder plötzlich geschnittenen Tonan- bzw. Absätzen?

Selbstverständlich sind viele dieser Kriterien auch abhängig von den Wünschen der Kund*innen: vielleicht möchte ja jemand ausdrücklich, dass sein*ihr Song am Ende sehr stark „pumpt“. Das können wir natürlich nicht wissen, wenn wir uns Referenzen eines Tonstudios anhören. Deshalb mein Rat an dich als Musiker*in: Wenn möglich, höre dir verschiedene Referenzen an und prüfe, ob das entsprechende Phänomen überall auftaucht. Du könntest auch nachfragen, ob ein bestimmtes Klangbild möglich ist und schauen, was du für eine Antwort bekommst.

Die Beurteilung von Audio-Produktionen ist ein heikles Thema. Oft sollte man sich wohl auch einfach eines Urteils enthalten, vor allem unter Kolleg*innen. Aber als Musiker*in bist du wie gesagt manchmal darauf angewiesen, zu urteilen. Vielleicht helfen dir die obigen Kriterien in Zukunft dabei weiter.

Wie immer würde ich mich über Widersprüche oder Ergänzungen in den Kommentaren freuen!

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