Wir haben fünf äußere Sinne, die alle eine bestimmte Aufgabe übernehmen. Das Auge sieht, das Ohr hört, die Nase riecht usw., Richtig?
Wenn du so eine Frage liest, denkst du dir bestimmt schon: Wahrscheinlich ist die Antwort nicht „ja“. Und du als Kolleg*in kennst die Antwort wahrscheinlich sogar schon – vielleicht interessieren dich dann aber trotzdem die audiotechnischen Implikationen weiter unten – und warum ich aus ihnen leider keine Werbe-Kampagne für mich machen kann.
Also: Tatsächlich ist es so, dass unsere Sinne ihre Aufgaben nicht getrennt voneinander wahrnehmen. 1976 hat der Forscher Harry McGurk dies am Beispiel des Hörens nachgewiesen. Er zeigte Versuchspersonen ein Video mit einer Tonspur. Auf dem Video war eine Person zu sehen, die drei Silben sprach. Die Versuchspersonen wurden gefragt, was sie gehört hätten. Die aller meisten antworteten, sie hätten die Silben „da-da-da“ gehört. Nur dass diese Silben im Video nicht auftauchten.
Wie das?
Auf den Bildern im Video war anhand der Lippenbewegungen zu sehen, wie eine Person die Silben „ba-ba-ba“ sprach. Auf der Tonspur aber war zu hören, wie jemand „ga-ga-ga“ sagte. Was passierte war, dass der Seh-Eindruck der Versuchspersonen („ba-ba-ba“) mit dem Hör-Eindruck („ga-ga-ga“) zu „da-da-da“ vermischt wurde. Das heißt: Im Gehirn werden Reize aus verschiedenen Wahrnehmungskanälen miteinander verrechnet und beeinflussen sich somit in dem Eindruck, der uns letztlich bewusst wird.
Was das nun philosophisch für die Frage nach unserem Verhältnis zur Realität bedeutet, sei an dieser Stelle einmal dahin gestellt. Was aber bedeutet es für die Audio-Produktion?
Im Zeitalter der digitalen Technik sehen wir am Computer auch immer, was wir an Audio-Material bearbeiten. Wir sehen Entzerrungskurven von EQs, Lautstärkeverläufe und Wellenformen – und Vieles mehr. Nun nutzen viele Audio-Engineers diese visuelle Unterstützung bei der Arbeit. Sie bearbeiten mit dem EQ Frequenzen, während sie die grafische Anzeige beobachten. Im Grunde ist das natürlich auch wirklich sehr hilfreich und kann die Arbeit beschleunigen. Aber: Es kann eben auch passieren, dass der Seh-Eindruck den Hör-Eindruck beeinflusst. Vielleicht hattest du als Kolleg*in zum Beispiel schonmal das Erlebnis, dass du an einem EQ-Parameter etwas verändert hast und dann irgendwann bemerktest, dass du an einer ganz anderen Spur herumgeschraubt hast als an der, die du dir gerade solo angehört hast. Dennoch glaubtest du, du würdest eine Klang-Veränderung hören. Nein: Du hast sie nur gesehen und gedacht, du würdest sie hören – der McGurk-Effekt!
Nun könnte ich diesen Blog-Artikel zu einer tollen Werbe-Kampagne für mich machen: Ich bin blind (das ist ehrlich gemeint), daher lasse ich mich nicht von störenden Seh-Eindrücken ablenken und mache daher die besseren Audio-Produktionen!
Aber natürlich ist das Unsinn. Warum?
Erstens – und das weißt du als Kolleg*in selbstverständlich selbst am besten: Natürlich kann ich negative Folgen des McGurk-Effekts ganz einfach verhindern, indem ich um diesen Effekt weiß und eben letztlich mich bewusst (und vielleicht manchmal mit geschlossenen Augen) nach meinem Gehör richte.
Zweitens: Meiner Erfahrung nach funktioniert ein solcher Täuschungs-Effekt auch mit Wissen statt mit Sehen: Ich habe es schon mehrfach erlebt, dass ich etwas beispielsweise an einem EQ verstellt habe und dachte, ich würde eine Veränderung hören, obwohl ich gerade an einer ganz anderen Spur herummanipulierte. Das heißt, mein Wissen, dass ich gerade etwas in einem EQ verstelle, führte dazu, dass ich auch glaubte, die Veränderung zu hören.
Fazit: Wie in allen Bereichen ist es auch in der Audio-Produktion wichtig, die eigenen und menschlichen Schwächen (die oftmals zugleich wie hier faszinierende Phänomene sind) zu kennen. Denn dann kann ich sie umgehen. Nicht vollständig – das zu glauben wäre anmaßend. Aber hinreichend für sehr gute Audio-Produktionen.
Hast du schon bewusst Erfahrungen mit dem McGurk-Effekt gemacht? Oder sind dir schon andere akustische bzw. akustisch-visuelle Täuschungen begegnet? Schreib gerne in die Kommentare und erzähle davon!
Hallo Philipp und herzlichst aus Berlin gegrüßt! Spannendes Thema und ich habe gerade diese Woche damit zu tun gehabt.
Vor ungefähr einem Jahr habe ich meine erste Orchesterkomposition einem befreundetem Dirigenten gezeigt. Mit „Gezeigt“ meine ich: ich habe eine ProTools-Session geöffnet, ihm Kopfhörer aufgesetzt und auf die Leertaste gedrückt. Zu sehen gab es da ein Edit- und ein Mixfenster und sehr viele kleine MIDI-Klötzchen, die sich durch den Play-head durch bewegen. Vor einigen Wochen habe ich ein Musikvideo zu diesem selben Stück für Youtube fertig gestellt, in welchem ich als Dirigent zu sehen bin im Anzug mit Baton und gut gesetzten Lichtern in violett und türkis, die von meinem Profil reflektieren . Mein Amüsement war groß, als der Dirigent mir ein Kompliment zu meiner musikalischen Weiterentwickling machte, denn musikalisch hatte sich gar nichts verändert.
Ich scherze seitdem, daß man, wenn man im Orchester den Eindruck hat, die Kontrabassist*Innen seien nicht zu hören, es zwei Möglichkeiten gibt: 1. Man kann mehr Kontrabassist*Innen dazu holen oder 2. denen die da sind Beyoncey-Perücken aufsetzen Dann kriegen sie extra Aufmerksamkeit und werden somit auch besser gehört.
Ich weiß von einer Hirnforscherin, daß der Teil im Neo-Kortex, der für das Sehen zuständig ist sehr gut mit dem Rest des Hirnes vernetzt ist und mehr Raum beansprucht als andere Sinne. Wenn nun ein Sinn fehlt kann der Raum von den anderen Sinnen beansprucht werden und so kann man sagen, daß Wahrheit immer relativ zur eigenen Wahrnehmung ist.
Für mich als produzierender Künstler stellt sich deshalb immer wieder die Frage, wie schaut die Verpackung um meine Musik aus?
Tschüß! Benjamin . >
LikeLike
Hey Benjamin,
ich freue mich, dass du hier vorbei schaust! Und deine Geschichte ist – um es mit den Känguru-Chroniken zu sagen 😉 – auf eine Art witzig und nicht witzig gleichzeitig, finde ich. Das, was ich daran nicht witzig finde, ist etwas, worüber ich mich immer wieder (wahrscheinlich zu viel) aufrege: Mein Band-Kollege und ich haben häufiger Diskussionen über das Thema, wie wichtig visuelle Aspekte z. B. bezüglich unseres Outfits sind. Ich bin da häufig genervt, weil ich mir immer denke: Leute, hört doch bitte einfach auf die Musik, wir machen ja eben kein Stummfilm-Theater. Aber mein Kollege sagt dann immer – und er hat wohl recht damit -, dass die visuellen Eindrücke eben einfach mitspielen und dass das ja vielleicht in Grenzen auch okay ist, weil es eben einfach ein weiterer Sinneseindruck ist, der auch eine Ästhetik liefern kann. Tja, schwieriges Thema…
LikeLike